(Quelle: Kim-Young Hee, veröffentlicht im Taekwondo aktuell)
Das körperliche Training alleine macht noch keinen Meister einer Kampfkunst. Was aber macht dann einen Meister? Man spricht von der Konzentrationsfähigkeit des Geistes. Worin liegt das Geheimnis der Konzentrationsfähigkeit? Unsere alten Lehrer erklären es mit den Worten: „Bündelung der ganzen Kraft aus der Einheit von Körper und Geist.“ Allein körperlichen Eigenschaften Bedeutsamkeit zuzusprechen, wird der Bedeutung der körperlich- geistigen Einheit in einer Kampfkunst nicht gerecht. Das zeigt Taekwondo! Auch bei den größten körperlichen oder sportlichen Leistungen können wir das wesentliche Moment des Taekwondo nur durch das Medium unserer inneren Kraft erkennen.
„Ringe Deinem Körper alle Kraft ab!“ oder „Setze Deine Hüfte richtig ein!“ – Diese beiden Lehrsätze wurden mir schon in meiner Kindheit
gepredigt. Damals, in meiner Kinderzeit, nannte man ein gehorsames Verhalten und Selbstdisziplin die am meisten erwünschten Tugenden.
Deswegen habe ich diese – für mich zunächst mysteriösen – Ermahnungen ohne Zweifel als die größten Grundsätze des Taekwondo akzeptiert.
Die Gewohnheit drängt den Menschen in die alte Bahn zurück. Auch ich habe in Deutschland diese undurchschaubare Lehre an meine Schüler
weitergegeben, ohne ein echtes Verständnis dafür zu vermitteln. Im Unterschied zu meinen kindlichen Erfahrungen haben die meisten meiner
Schüler diese kostbaren Anweisungen nur oberflächlich betrachtet, weil ich sie nicht deutlich begreiflich machen konnte.
Zugrunde liegt wahrscheinlich der Unterschied zwischen Westen und Osten in Denkweise, Kultur und Erziehung. Das intuitive Erkennen ist sicherlich charakteristisch für die asiatische Denkweise und Mentalität. Aus europäischer Perspektive hingegen steht die diskursive Verständigung im Vordergrund. Deshalb legen Europäer großen Wert auf die sprachliche Erklärung, während aus asiatischer Sicht die persönliche Erfahrung weitaus wichtiger ist. Daher orientieren sich fernöstliche Lehrer weitaus stärker an der persönlichen Beziehung zu ihren Schülern. Genau darin besteht eine Problematik, die den theoretischen Zugang zu den entscheidenden Grundtechniken des Taekwondo sehr erschwert. Das Problem ist wahrscheinlich auch in der traditionellen östlichen Erziehungsmethode zu finden. Die Lehrer sind Kraft ihrer Autorität zur Lenkung und Machtausübung gegenüber den Schülern befugt und verpflichtet. Gehorsam ist in diesem Erziehungsstil die höchste Pflicht der Schüler. Zweifelhafte Gefühle dürfen sie nicht zeigen. Typische Lehren des Taekwondo wie Beweglichkeit, Schnelligkeit, Kraft, Konzentration wurden ohne theoretische Strenge nur durch die Intuition vermittelt und akzeptiert. Vor diesem Hintergrund ist es interessant zu sehen, wie die Lehre der Konzentrationsfähigkeit bemüht ist, Grundbewegungen des Taekwondo wie Fauststöße und Fußtritte nach Grundprinzipien der Natur zu deuten. Wie kann man die Zentralisierung der ganzen Kraft aus der leibseelischen Einheit wissenschaftlich deuten? Welche Bedeutung hat diese Lehre? In der traditionellen Lebensweise hat sich ein Grundsatz für das angemessene Erlernen der Kampfkunst herauskristallisiert: Es kommt darauf an, wie intensiv die Kraft auf einen Punkt gesammelt werden kann. Vielleicht ging man vom Prinzip der Handwäsche aus, das – so überraschend es auch sein mag – den konstitutiven Grundlagen der Taekwondo-Techniken entspricht:
Dem Auswinden bei der Handwäsche liegt dasselbe Prinzip zugrunde wie der rechten Körperhaltung, die zu einem harmonischen Verhältnis aller Körperteile zueinander führt. Das ist genau dasselbe Prinzip des Taekwondo, das eine Balance des Körpers in der Bewegung und im Stand sicherstellt. Nur wenn dies zutrifft, ist es möglich, eine optimale Kraft in eine Technik zu übertragen und sich sicher zu bewegen. Es handelt sich bei diesem Prinzip um die Zentripetalkraft, eine physikalische Kraft, die an einem Körper angreift, der sich auf einer kreisförmigen Bahn bewegt. Im Unterschied zur Zentrifugalkraft hält sie den Körper auf seiner Kreisbahn und ist nach innen zum Kreismittelpunkt bzw. zur Drehachse gerichtet. Im Gegensatz zu einer zentrifugalen Kreisbewegung bildet die Zentripetalkraft den Drehpunkt im ganzen Körper, der Anfang und das Ende des Taekwondo und das innere Zentrum des Menschen darstellt.
Die oben kurz gefaßte Darstellung ist bemüht, den belehrenden Satz der Zentralisierung der ganzen Kraft beim Taekwondo durch das Beispiel der Handwäsche theoretisch auszulegen. Als ein Lehrer möchte ich nun betonen, dass die intuitive Erklärung, die früher den Schülern durch die autoritäre Methode gegeben wurde, vielleicht Boden für das geistige Verständnis der geheimnisvollen Kampfkunst ist, aber nicht Ersatz für die wissenschaftlichen Auslegungen.
Im wissenschaftlichen Zeitalter fühlen wir uns langsam dazu verpflichtet, die grundlegenden Prinzipien der Techniken theoretisch zu analysieren und auszulegen. Daher messe ich heute der Ausbildung des Taekwondos einen starke erzieherischen Aspekt bei und setze den Schwerpunkt auf die vernunftgemäße Erklärung. Wir brauchen mehr wissenschaftliche Erklärungen, die imstande ist, bei den leidenschaftlichen Schülern theoretisches Verständnis zu wecken.
Was ist Taekwondo? Was macht den Meister des Taekwondo aus? Auf diese Frage möchte ich jedoch immer mit der alten Lehre, „die Zentralisierung der ganzen Kraft macht den Meister“, antworten. „Setze Deine Hüfte richtig ein und ziehe die Kraft daraus, dann wirst Du stärker!“